Am Anfang war das Chaos
Am Anfang war das
Chaos. Die Erde begann zu grollen, und ich wurde weggerissen,
mitgerissen, fortgerissen, fort von
meinem Vater, meiner
Mutter, fort aus der Mitte unserer Inselgruppe.
Lange Zeit trieb ich im endlosen Ozean. Stürme waren an der Tagesordnung
und noch heute weiß ich nicht, wie ich sie überstanden habe, ohne zu
zerbersten.
Dann kehrte Stille ein. Die Elemente beruhigten sich. Nicht auf einmal -
es dauerte Millionen von Jahren, ganze Zeitalter vielleicht.
Ich trieb nicht mehr auf den Weiten der Meere. Ich war an einem
Meeresrücken hängen geblieben, inmitten der Wasser, die mein natürliches
Element sind. Ich war allein. Ich hatte Zeit, all meine salzigen Tränen
zu weinen, aber dann fand ich an meiner Einsamkeit Gefallen.
In meiner Kindheit war ich in einer kleinen Inselgruppe eingeklemmt
gewesen und hatte mir oft ein Erdbeben gewünscht, um diese enge
Verbindung aufzubrechen. Nun war es geschehen … Ich war allein und auch
ganz zufrieden damit.
Die Tage flossen in der Sonne gemächlich dahin. Ein Korallenriff hatte
sich gebildet und schützte meine Ufer vor der Brandung des Meeres. Ich
dehnte mich in der Sonne und ließ mich bräunen. Ganz lässig. Die wenigen
Regenfälle genügten, um mein Inneres grün werden zu lassen. Auch Tiere
fanden sich ein: Nager, Wirbellose und viele, unendlich viele Vögel.
Bald begannen sie mich zu ärgern: Wenn sie schon in so großer Anzahl zu
mir hergeflogen waren (an manchen Tagen war ich von ihnen über und über
bedeckt und ihre Schreie störten meinen Schlaf), so deshalb, weil es in
meiner Nähe vielleicht eine andere Insel gab. Möglicherweise auch eine
Inselgruppe, wie die in meiner Kindheit. Aber ich hütete mich natürlich,
mich ihr zu nähern. Auf meine Ruhe wollte ich nicht so leichten Herzens
verzichten.
Ich brauchte einige Zeit bis ich begriff, dass ich in Einsamkeit alt
wurde … und leider nicht in Schönheit alt geworden war. Die Tiere waren
geflohen, weil meine einst so üppige Pflanzenwelt nicht mehr ausreichte,
um sie zu ernähren. Ich war ausgeplündert, ausgetrocknet und nicht sehr
einladend.
Mein Verlangen nach Einsamkeit hatte mich auf einen falschen Weg
geführt. Seit einiger Zeit schwand ich dahin, meinen Strand hatte das
Meer gefressen, weil die Korallen mich vor der Brandung nicht mehr
schützen konnten. Meine Kokospalmen hatten ihre Wedel verloren – ein
Wirbelsturm hatte sie geköpft.
Die Trockenheit hatte meine Quellen austrocknen lassen. Ich musste ein
jämmerliches Bild abgeben, so einsam und unansehnlich inmitten des
Ozeans. Und wenn ich so recht darüber nachdachte: Kein abenteuerlustiger
Seefahrer war jemals an meinem Strand gelandet und hatte meine Erde mit
dem Schritt eines Eroberers betreten. Ja, ich bezahlte meine Einsamkeit
teuer!
Papa, Mama, liebe
kleine Geschwisterinseln – wo seid ihr?
Mein Kummer wurde so überwältigend, dass ich beschloss, mich auf die
Suche nach meiner verlorenen Inselgruppe zu machen. Und selbst wenn ich
meine Verwandten nicht finden sollte, würde ich beim ersten Atoll
festmachen, auf das ich traf und es um Hilfe bitten. Ich würde mich klug
an sein Ökosystem anpassen, ohne Wellen aufzuwerfen, ganz wie die nette,
kleine Insel aus dem Tertiär, die ich war!
Aber ich musste zu meinem Leidwesen erfahren, dass man sich von seinen
Sedimenten nicht so leicht befreien kann. Trotz aller meiner
Anstrengungen mich loszureißen, hing ich an meinem Meeresrücken fest.
Nach genau 15.789 Jahren hatte ich mich um 23 Zentimeter weiterbewegt …
und noch nicht einmal aus eigener Kraft: ein Seebeben war mir behilflich
gewesen. Das scheint ab und zu vorzukommen. So etwa alle 30.000 Jahre.
Also warte ich. Allein.
***
Niemand ist eine
Insel. Wir alle brauchen die anderen, um zu überleben.
Selbst wenn wir manchmal das Bedürfnis haben, uns abzusondern, mit uns
allein zu sein, sind wir „politische Wesen“, das heißt, Lebewesen, die
sich inmitten von Ihresgleichen am besten entwickeln. Wer auf den Umgang
mit anderen verzichtet, dem geht es dann oft wie der kleinen Insel: Sie
erhalten keinen Energienachschub mehr, Sie verkümmern, fühlen sich
frustriert, versuchen, mit Ihren eigenen Kräften weiterzuleben und
erschöpfen schließlich auch diese. Das beste Heilmittel gegen Verdruss
und Langeweile, gegen das Schwinden der eigenen Kräfte: Tanken Sie bei
Ihrer Familie, Ihren Freunden, Ihren Liebsten wieder auf.
***
„Im Herzen eines
jeden Menschen gibt es einen Magneten, der echte Freunde anzieht. Dieser
Magnet ist die Selbstlosigkeit, die Bereitschaft, sich anderen
zuzuwenden.“
Paramahansa Yogananda
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