Zwischen Himmel und Erde
Engel lassen sich nicht naturwissenschaftlich beweisen, sagt Uwe Wolff, der seit
20 Jahren Engelforschung betreibt. Engelerfahrungen sind Schlüsselerfahrungen
und kommen in allen Kulturen und Religionen vor.
Engel scheinen trendy zu sein – und werden entsprechend vermarktet. Wie erklären
Sie sich diese Entwicklung?
Uwe Wolff: Es hängt damit zusammen, dass wir in einer grossen Zeit des Umbruchs
leben. Das zeigt sich bei der Inflation des Geldes, bei der multikulturellen
Gesellschaft und bei den Werten, für die die heutige Generation lebt. Es war
schon immer so, dass wenn sich die Gesellschaft wandelt und sich die Erde
häutet, dass dann die Engel da sind.
Seit wann beobachten Sie das steigende Interesse an Engeln?
Wolff: Weltweit begann der Boom um die Jahrtausendwende. Es gehört zu den
grossen Wandlungsprozessen, dass die Engel da sind. Und diese Entwicklung nimmt
weiter zu. Das hat auch damit zu tun, dass die traditionellen religiösen Systeme
eine Wandlung durchmachen. Die Menschen suchen zwar mehr denn je nach Gott, aber
sie finden ihn nicht mehr da, wo man ihn früher gefunden hat. Die Kirchen sind
sonntags zwar leer, aber das religiöse Interesse hat deswegen nicht abgenommen.
Je mehr Gott in die Ferne rückt in den Kirchen, desto näher kommen die Engel.
Engel sind ein überreligiöses Phänomen.
Gibt es den
Prototypen eines Engels oder ist er nicht eher der Überbegriff für etwas
Unerklärliches?
Wolff: Religionen formen das Unerklärliche aus. Judentum, Christentum und Islam
haben immer wieder am Bild des Engels gearbeitet. So erscheinen Engel als
Gestalten auf der Welt und berufen beispielsweise die Propheten. Auf diese Weise
werden Geheimnisse erzählbar gemacht. Dieses Schwingen zwischen Geheimnis und
Geschichte symbolisieren für mich die Flügel. Der eine Flügel berührt die
himmlische Welt, der andere Flügel meine irdische Welt.
Welche Unterschiede in Darstellung und Erscheinung gibt es bei den verschiedenen
Religionen?
Wolff: Wir nehmen Engel vor allem als geflügelte Wesen wahr, aber in den
heiligen Schriften ist nur selten davon die Rede. In den meisten Fällen ist
überhaupt nichts über das Aussehen der Engel bekannt. Ich erinnere zum Beispiel
an den Engel Gabriel, der Maria erschien. Es sind nur die Cherubinen und
Seraphinen, die sechs Flügel tragen. Die Maler haben uns aber Bilder
hinterlassen und ich finde es gut, dass sie den Engeln Flügel angesetzt haben.
Denn die Flügel widerspiegeln die Aufgabe der Engel: Schutz und Geborgenheit.
Und darauf ist unsere christliche Tradition aufgebaut.
Sie bezeichnen sich als Engelforscher. Was macht Sie so sicher, dass es Engel
gibt?
Wolff: Einen Engel kann man nicht naturwissenschaftlich beschreiben und deshalb
bedeutet Engelforschung in erster Linie Menschenforschung. Ich betreibe also
eine biografische Forschung, indem ich schaue, welche Spuren der Engel in der
Seele des Menschen hinterlassen hat. Ich habe als Kind selber
Schutzengelerlebnisse gehabt, würde aber nie vor diesem Hintergrund behaupten,
dass es Engel gibt. Ich denke, dass der Beweis für die Existenz der Engel im
Wissen unserer kulturellen Betrachtung liegt. Wenn alle Religionen, Dichter,
Maler und Künstler von Engeln sprechen, dann ist dies ein kulturgeschichtlicher
Beweis. Ein Einzelner kann sich irren, nicht aber die gesamte Geschichte. Engel
gab und gibt es seit jeher. Nicht als etwas Beweisbares aber als innere
Erfahrung.
Engel kann man nicht von den Erfahrungen eines Menschen trennen.
Wieso glaubt ein
Mensch überhaupt an Engel?
Wolff: Menschen machen Erfahrungen. Sie fahren zum Beispiel auf der Autobahn,
geraten in eine gefährliche Situation und werden bewahrt. Die Reaktionen fallen
dann unterschiedlich aus. Der Eine spricht von Glück, der andere von
Dankbarkeit. Der Engel ist nicht vom Leben zu trennen, aber er ist eine Stimme,
die über das Leben hinaus wirkt, und je nachdem, wie wir darauf reagieren, sind
wir dem Engel nah oder fern. Wer einen Engel erlebt, spürt, dass er nicht
alleine ist.
Gibt es Menschen, die prädestiniert sind, Engel zu erleben und daran zu glauben?
Wolff: Jeder Mensch ist offen für die Begegnung mit Engeln, aber nicht jeder
reagiert gleich darauf. Verdrängung, Heiterkeit oder Überspielung sind mögliche
Reaktionen. Und einige schützen uns vor der inneren Erfahrung. Ich erachte es
als positiv, wenn wir nicht leichtfertig mit unseren Gefühlen umgehen. Meine
Erfahrung zeigt, dass Menschen, die Engel erlebt haben, eine gewisse Tiefe in
der Selbstwahrnehmung haben, sie dankbar sind und es ihnen bei Weitem nicht
immer gut gegangen ist. Sie sind aufgrund ihrer Grenzerfahrungen mit Engeln in
Kontakt gekommen, die ihnen geholfen haben. Insofern haben Engelerfahrungen sehr
viel mit unserer Schattenwelt zu tun, die erleuchtet wird.
Gibt es auch Gebiete, wo Engel häufiger erlebt werden?
Wolff: Engel sind ein weltumfassendes Phänomen. Man kann nicht sagen, dass die
Skandinavier nüchterner sind als die Italiener. Zudem hat unsere moderne Welt ja
auch gelernt, im Weltmassstab zu denken. Die moderne Welt ist vor allem eine
technische Welt, in der wir universal vernetzt sind. Und Engel sind auch so
etwas, wie ein spirituelles Netzwerk. Deshalb ist es kein Zufall, dass die Engel
während der Globalisierung in allen Ländern und Religionen wieder auftauchen.
Gibt es konkrete Merkmale zum äusseren Erscheinungsbild eines Engels?
Wolff: Engel erscheinen ganz unterschiedlich. Manchmal ist es eine innere
Stimme, manchmal ein inneres Bild. Ich kenne niemanden, der Engel so gesehen
hat, wie sie die Maler dargestellt haben mit langen Gewändern, weiblichem
Geschlecht und Heiligenschein. Der Engel ist Ausdruck für ein inneres Bild und
hat etwas mit der Frage nach dem Sinn des Lebens zu tun. Die innere Stimme macht
nicht viele Worte, sondern äussert sich meist in einem Gedanken. Den Engel spürt
man an der Intensität der Begegnung. Engelerfahrungen sind deshalb
Schlüsselerfahrungen.
Ein letzter Punkt zum Erscheinungsbild. Woher kommt die Idee, dass Engel
weiblich sind?
Wolff: Die Bibel sagt nichts über das Geschlecht der Engel und die frühen
Christen haben sich auch geweigert, Engel darzustellen. Das Engelbild ist sehr
spät entstanden in der christlichen Kunst und wurde im 19. Jahrhundert durch die
Kitschindustrie mit weiblichen Attributen ausgestattet. Der Engel als
vollkommenes Wesen hat aber sowohl weibliche wie männliche Seelenteile.
Seit bald 20 Jahren erforschen Sie die Welt der Engel.
Welche
Erkenntnisse haben Sie gewonnen?
Wolff: Erstens sind die Engel keine Erfindung der katholischen Kirche, sondern
kommen in allen Weltreligionen vor. Sie sind Friedensboten, die uns mit allen
religiösen Menschen der Erde verbinden. Zweitens habe ich festgestellt, dass
Engel gegenwärtig sind, seit Menschen von sich erzählen, wie die Dichtung
beweist. Und drittens sind mir die Engel auf allen historischen Bildern der
Kunstgeschichte immer wieder begegnet.
Was wissen Sie über allfällige Engelerlebnisse der Gegenwart?
Wolff: In diesem Jahr habe ich vor allem mit Kindern über ihre Vorstellungen von
Engeln gesprochen. Ich bin in Schulen gegangen und habe die Kinder Briefe
schreiben lassen an ihren Schutzengel, ohne dass wir uns vorher darüber
unterhalten hätten. Die Auswertung der 1000 Briefe war faszinierend, denn die
Kinder schrieben nicht in erster Linie über Lichtgestalten, sondern erzählten
über sich und ihre wunderbaren Erlebnisse, wo sie spürten, dass sie nicht
alleine sind.
Interview: Daniel Rehfeld
Der 50-jährige Uwe Wolff studierte Philosophie, Pädagogik, Germanistik und
Theologie. Er ist Studiendirektor des Lehrerseminars Hildesheim in Deutschland,
Publizist mehrerer Bücher.
Aus dem Tagblatt vom 22.12.2005
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